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Prof. Dr. Christina Simon-Philipp über Partizipation im ?ffentlichen Raum

?Ein stiller Bürger ist kein guter Bürger“

Der ?ffentliche Raum geh?rt uns allen: Doch welche M?glichkeiten haben wir mitzubestimmen, wie wir ihn nutzen m?chten? Die Architektin Prof. Dr. Christina Simon-Philipp spricht im Interview über partizipatorische Stadtplanung in der Region Stuttgart und warum sich Bürgerinnen und Bürger einmischen sollten.

Sie besch?ftigen sich mit dem ?ffentlichen Raum und seiner Bedeutung auch in Stuttgart. Was sind hier die zentralen Fragen?

Christina Simon-Philipp: Es geht vor allem um die Frage: Wie gehen wir mit dem ?ffentlichen Raum um, was brauchen wir dort und wie gestalten wir diesen? Und - ganz wichtig: Welche Rolle spielt es, was die Bürgerinnen und Bürger wollen. Hier hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan.

Wie kam es zu dieser Entwicklung und der Forderung der Bürgerinnen und Bürger nach mehr Beteiligung – Partizipation - ?in der Stadtentwicklung?

Christina Simon-Philipp: Die Diskussion ist wichtiger geworden dank dem Verein Stadtlücken und anderer Initiativen in Stuttgart, die sich in die Gestaltung und Entwicklung der Stadt einmischen. Ich habe das zwar nicht erforscht, habe aber den Eindruck, dass Stuttgart 21 ein entscheidender Wendepunkt war. Das war sozusagen der ?Worst Case“. Das Bahn-Projekt zeigte, dass der Schuss nach hinten losgehen kann, wenn die Menschen nicht von Beginn an mitgenommen werden. Den partizipativen Gedanken gibt es aber schon viel l?nger in der Stadtplanung, eng verbunden mit der Entwicklung der Stadterneuerung seit den 1970er Jahren, dem Beginn des Programms Soziale Stadt vor über 20 Jahren und der Leipzig Charta 2007. Vereine wie Stadtlücken haben den partizipativen Gedanken verinnerlicht, mischen sich ein und suchen nach M?glichkeiten, den ?ffentlichen Raum in der Stadt mitzugestalten und etwas zu bewegen – mit einer Diskussionskultur und friedlichen Protest-Kultur. Dies finde ich ganz wunderbar.

Sie haben gemeinsam mit den M4_LAB Mitarbeiterinnen und Stadtplanerinnen Carolin Lahode und Ann Sarah Sutter 2018 das ?Labor für experimentellen Stadtraum (LES)“ gegründet. Es geh?rt zum Transfer-Projekt M4_LAB an der Hochschule für Technik, das im Rahmen der Bund-L?nder-Initiative Innovative Hochschule gef?rdert wird. Wie kam es zu dieser Idee?

Christina Simon-Philipp: Der Impuls kam von den Planerinnen und Gestalterinnen Carolin Lahode und Sarah Ann Sutter, die auch bei den Stadtlücken engagiert sind und die Idee im Zuge der IBA-Summer-School 2019 entwickelt haben. Sie haben sich mit der Frage besch?ftigt, wie wir den ?ffentlichen Raum entwickeln k?nnen. Wie k?nnen wir die autogerechte Stadt in eine mehr menschengerechte Stadt transformieren? So haben wir dann auch die inhaltlichen Schwerpunkte im Transfer-Projekt M4_LAB entwickelt. Es geht dabei um die Frage, wie kooperative Raumentwicklung mit den Bürgerinnen und Bürgern in Quartieren umgesetzt werden kann, damit soziale Interaktion und aktive Beteiligung erm?glicht wird.

Zur Person:

Prof. Dr. Christina Simon-Philipp ist Professorin für Stadtplanung und St?dtebau an der Hochschule für Technik Stuttgart (HFT) und Leiterin des Zentrums für Nachhaltige Stadtentwicklung am Institut für angewandte Forschung an der HFT. Sie ist Studiendekanin im 365体育备用网址_365最新备用网址@-Studiengang Stadtplanung. Sie hat die wissenschaftliche Leitung im Teilvorhaben 3 im M4_LAB der HFT inne. Das M4_LAB ist ein Bund-L?nder Transferprojekt ?Innovative Hochschule“ an der HFT. Im Teilvorhaben 3 geht es um innovative Bau-, Energie- und Mobilit?tskonzepte für die Metropolregion Stuttgart. Simon-Philipp ist Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen, ein gefragtes Mitglied in Jury und Expertengremien, von 2016 bis 2020 war sie Juryvorsitzende des Deutschen St?dtebaupreises.

Prof. Dr. Christina Simon-Philipp

Warum haben Sie es ?Labor für experimentellen Stadtraum“ genannt?

Christina Simon-Philipp: Es versteht sich als Forschungslabor, das sich dem Thema Stadtraum widmet und in so genannten Reallaboren arbeitet. In diesem Labor arbeiten die Forschenden direkt mit den Bürgerinnen und Bürgern und anderen lokalen Akteuren aus der Praxis gemeinsam vor Ort zusammen. Sie bringen sich direkt in die Aktivit?ten im Stadtteil ein, also, das was man als transdisziplin?r und auch transformativ bezeichnet. Die Forscherinnen und Forscher gehen vor Ort, sprechen mit den Leuten, beobachten, was passiert, wenn man bestimmte Dinge dort anst??t und implementiert. Dies haben wir in der B?ckinger Stra?e in Stuttgart-Roth mit einem Interventionstag gemacht. Dafür haben die 365体育备用网址_365最新备用网址@den ?Rotk?ppchen“ gebaut. Das sind kleine M?bel, Mitmach-Kioske, mit denen sie durch das Quartier gezogen sind, um die Nachbarschaft in ihrem Stadtteil zu aktivieren. ?Link zu Magazin-Artikel über B?ckinger Stra?e.

Was verstehen Sie unter einer Intervention in der Stadtplanung?

Christina Simon-Philipp: Dieses Konzept ist unter anderem zurückzuführen auf Jan Gehl, einen berühmten Stadtplaner aus Kopenhagen. Er hat an einem Tag eine geplante Ma?nahme durchgeführt und zum Beispiel Teile des Broadways in der Innenstadt von New York gesperrt, mit Blument?pfen versperrt und geschaut, was dann passiert. Gehl hat damals ?– beauftragt von der Stadtregierung – die Frage aufgeworfen, ob der Broadway neu und autofrei gestaltet werden kann.

Ein urbanes Experiment im ?ffentlichen Raum habe ich mit 365体育备用网址_365最新备用网址@den auch schon vor einigen Jahren auf dem Markplatz in Bad Cannstatt durchgeführt, einer der letzten Marktpl?tze in Baden-Württemberg, auf dem Autos parken durften. Wir haben am Interventionstag unter dem Titel ?Cannstatter Felderwelten“ jeden Parkplatz mit blauen B?ndern aus Sprühkreide umzingelt und für einen Tag lang ?vermietet“, zum Beispiel an Gesch?fte oder an eine Tanzschule. Auf einigen Feldern, also Parkpl?tzen, haben die 365体育备用网址_365最新备用网址@den eigene Interventionen durchgeführt. Ein Friseur kam, hat seinen Teppich auf dem Parkplatz ausgerollt, seinen Stuhl dort platziert und ?ffentlich die Haare geschnitten. Drei Jahre sp?ter, war der Marktplatz für den Verkehr gesperrt. Er ist heute autofrei. Mit urbanen Interventionen kann man viel bewegen. Dies zeigen auch unsere aktuellen Initiativen. Es geht uns um Projekte, mit denen wir die Nachbarschaft aktivieren und zur sozialen Interaktion auffordern wollten.

Welche Voraussetzungen gibt es, dass solche Intervention tats?chlich auf fruchtbaren Boden fallen?

Christina Simon-Philipp: Ver?nderungen geschehen oftmals, wenn etwas in die st?dtische Politik einwirken kann. Wir hatten damals in Bad Cannstatt alle Gemeinder?te eingeladen und pr?sentierten unser Konzept im Gemeinderat. M?glicherweise haben sich hier manche Einstellungen oder Meinungen ver?ndert. Prinzipiell hat sich heute jedoch das Bewusstsein weitgehend gewandelt – hin zu einer menschengerechten Stadt.

Was verstehen Sie unter ?menschengerechte Stadt"? Was ist der Unterschied zu früher, als man St?dte geplant hat? War das nicht menschengerecht?

Christina Simon-Philipp: Das Leitbild in den 1950er, 60er, 70er Jahren war die autogerechte Stadt. Damals hat man in erster Linie danach gefragt, wie man den Verkehr in der Stadt unterkriegt – der Autoverkehr hatte absoluten Vorrang, die Massenmotorisierung stellte die St?dte vor ganz neue Herausforderungen. Damals sind solche Stra?en in Stuttgart entstanden wie die Theodor-Heuss-Stra?e und die Heilbronner Stra?e (B 27) und oder die Konrad-Adenauer-Stra?e (B 14). Man plante den ?ffentlichen Raum autogerecht mit vielen Spuren für den motorisierten Individualverkehr. Die Fu?g?ngerinnen und Fu?g?nger wurden ?an den Rand gedr?ngt“, durch Unterführungen oder über Brücken geschickt. Es war das prim?re Ziel, den motorisierten Autoverkehr gut abzuwickeln. Alles andere wurde dem untergeordnet. Das, was übrigblieb, war dann für den Fu?g?nger gedacht. Heute denkt man komplett anders, man überlegt, welche unterschiedlichen Bedürfnisse in Bezug auf Mobilit?t und Aufenthalt es gibt und wie man diese Bedürfnisse und Funktionen bestm?glich in Einklang bringt. Heute besch?ftigen wir uns intensiv mit der Frage: Wie kann man ?ffentlichen Raum zurückgewinnen?

Wo wird diese Rückgewinnung des ?ffentlichen Raums auch in der Stadt Stuttgart sichtbar?

Christina Simon-Philipp: Die Stadt Stuttgart plant zum Beispiel eine 5-Kilometer lange Strecke durch Stuttgart neu, also die gesamten Spange der B 14 durch die Innenstadt, von der Wilhelma, K?nig Karls-Brücke, Neckartor, bis hin zum Sch?ttle-Platz in Richtung Heslach. Dafür wurde ein internationaler Wettbewerb mit der Kern-Frage ausgelobt: Wie schaffen wir wieder mehr Aufenthaltsr?ume für Menschen in die Stadt und wie l?sst sich der Verkehr trotzdem abwickeln? Bei der Begehung des Wettbewerbsareals fiel auf: Es gibt viele unwirtliche Bereiche entlang der Verkehrsadern, ?Unorte“ für Fu?g?nger, die vermutlich kaum jemals von Fu?g?ngern begangen wurden. Genau um diese Rückgewinnung und Gestaltung des ?ffentlichen Raums geht es jetzt. Es ist von der Stadt Stuttgart gewollt, dass sich Bürgerinnen und Bürger für diese Belange engagieren.

Das bedeutet also, dass schon in den Auslobungen der ?ffentliche Raum stadtplanerisch mehr berücksichtigt werden muss?

Christina Simon-Philipp: Der ?ffentliche Raum ist das zentrale Thema, nicht nur in der Innenstadt, sondern auch in den Wohnquartieren. Man m?chte weg von der Anonymit?t, wie sie z.B. in vielen klassischen Zeilenbauten-Siedlungen der 1950er und 60er Jahre herrscht. Damals wurde der ?ffentliche Raum wenig beachtet und mehr funktional als atmosph?risch gedacht. Autogerechte Wohnquartiere folgten der Logik: Die Bewohnerinnen und Bewohner fahren in die Garage und gehen ins Haus. Das war der Radius, in dem man sich im Stadtteil bewegte. Heute geht es st?rker um den ?ffentlichen Raum als sozialen Ort, als Ort für Treffpunkte, Kommunikation und Interaktion. In qualifizierten Projekten sind diese Aspekte zentraler Gegenstand der Planungen. Ein gutes Beispiel ist das neue Olga-Areal. Der Architekt, der den Wettbewerb gewonnen hat, hat einen komplett neuen ?ffentlichen Raum geschaffen, der, sehr gut geworden ist. Es wurde Raum für unterschiedliche Nutzungen geschaffen und eine Platzabfolge gestaltet, die die Neubebauung mit dem bestehenden Quartier im dicht bebauten Stuttgarter Westen verzahnt. Es gibt Grünfl?chen, Fu?wege und Pl?tze, wo sich die Nachbarschaft treffen kann. Und das ist auch ein wichtiges Thema für das Quartier B?ckinger Stra?e, wo viele neue Wohnungen gebaut werden: Wie schaffe ich es, über die Qualit?t und Gestaltung des ?ffentlichen Raums Neu und Alt zu verzahnen?

Was kann man tun, um Bürgerinnen und Bürger schon im Planungsstadium mehr zu beteiligen?

Christina Simon-Philipp: Es ist sehr wichtig, ausdifferenzierte Methoden zu finden, wie man Menschen nicht nur beteiligt, sondern auch mitwirken l?sst. Dabei muss man auf verschiedene Zielgruppen eingehen und sie befragen, wie sie im Viertel leben wollen. Wenn ich etwa zu ??einer Bürgerversammlung einlade im Bürgerhaus, Freitag abends um 18 Uhr, da wird vermutlich kaum ein Jugendlicher kommen. Ich glaube auch, dass man Bürgerinnen und Bürger nicht nur an ?fertigen“ Planungen beteiligen sollte, also zum Beispiel die Pl?ne im Rathaus aufh?ngt und dann auffordert: Sagt mal eure Meinung dazu. Sondern: Man sollte sie schon von Beginn an einbeziehen und fragen, was wollt ihr? Also abholen und direkt miteinbeziehen.

Wo wird dies bereits im gro?en Stil getan?

Christina Simon-Philipp: Ein gutes Beispiel ist die Stadt Augsburg. Sie baut einen sehr gro?en neuen Stadtteil, fast 200 Hektar Fl?che. Hier sollen einmal rund 25 000 Menschen wohnen. Die Stadt hat von Beginn an intensiv und mit unterschiedlichen Methoden Bürgerinnen und Bürger sowie Fachleute einbezogen. Expertinnen und Experten aus dem Bereich St?dtebau, Architektur, Landschaftsarchitektur, Klima, Soziologie, Verkehrsplanung und Digitalisierung wurden zu mehrt?gigen Intensivworkshops eingeladen, um gemeinsam ein Wei?buch - als ?Logbuch“ - für die Quartiersentwicklung zu erarbeiten. Zwei mal drei Tage haben wir gemeinsam Konzepte erarbeitet - und wie 365体育备用网址_365最新备用网址@de die N?chte durchgearbeitet! - , um dann der Stadtpolitik und dem Oberbürgermeister ?ffentlich zu pr?sentieren, was dort für eine Stadt entstehen k?nnte. Diese Ideen wurden immer wieder zurückgespielt in die Bewohnerschaft. Durch diesen iterativen, sich wiederholenden Prozess ist dann im darauffolgenden st?dtebaulichen Wettbewerb ein Konzept entstanden und pr?miert worden, das einen hohen Grad an Akzeptanz mit sich bringt. Ich glaube, dass man die Menschen unbedingt mitnehmen muss und sich die Mühe geben sollte, sie intensiv miteinzubeziehen. Auch die Stadt Stuttgart wird ein neues Stadtentwicklungskonzept auf den Weg bringen und die Bewohnerinnen und Bewohner ??mitnehmen. Es gibt ganz gute Projekte, da hat sich schon einiges bewegt. Auch durch kulturelle Projekte, die sich mit der Stadtentwicklung auseinandersetzen wie z.B. die Wagenhallen oder das Stadtmuseum.

Kurz zusammengefasst – warum finden Sie Partizipation so wichtig?

Christina Simon-Philipp: Es gibt ein gutes Zitat von Perikles, einem der führenden Staatsm?nner der griechischen Antike. Er sagte sinngem??: Der stille Bürger, der nicht teilnimmt am Stadtgeschehen, ist kein guter Bürger. Es ist also Bürgerpflicht, sich in st?dtische Angelegenheiten einzumischen. Mir gef?llt das Zitat, weil es dazu auffordert, dass sich jeder im Rahmen seiner M?glichkeit engagieren sollte. Dies hat historisch gesehen in Stuttgart Tradition. Es ist interessant, was in Stuttgart schon alles abgerissen worden w?re, wenn Bürger nicht protestiert h?tten - das Neue Schloss, die Markthalle, das Marienhospital und noch viele andere Bauten. In der Tat kann eine Stadtgesellschaft viel selber gestalten und etwas auf den Weg bringen, wenn sie sich nur einmischt.

Ver?ffentlichungsdatum: 18. November 2020 Von Susanne Rytina ()